If you don’t go you won’t know

Kaffee, Feuer, Schokokekse und ein gemütliches Sofa.

Wann anders könnte man sich entspannter zurücklehnen, um über das Schreiben, die vergangenen Tage und das bisherige Abenteuer „dogpacking in den Niederlanden“ nachzudenken.

Gestern in Hoek von Holland angekommen kommt es mir vor, als wäre ich nicht erst 9 Tage, sondern 9 Wochen oder gar Monate unterwegs. Am liebsten würde ich einfach mit dem Schiff nach Großbritannien übersetzen und meine bereits in den Gedanken geplante Tour durch Schottland, Irland und Wales dieser anschließen. Ach wäre es doch jetzt schon soweit… Alles was ich brauche habe ich bei mir.

Mein Fahrrad ist mir, auch wenn es  hier und da immer wieder Probleme bereitet hat, während der letzten Tage doch sehr ans Herz gewachsen. Immerhin hat es mich, trotz der vorherigen Zweifel, ob die Hinterachse die 150-160 Kilo Gewicht halten könne, bisher nicht im Stich gelassen.
Mein Hund Woodstock, Woody, der so unglaublich toll neben mir mitgelaufen ist, mit mir den Regen und die kalten Nächte verbracht hat und einfach von jedem als extrem kluger Hund, treuer Begleiter und gar Attraktion bewundert wurde, sodass es mir dieses Glück, ihn zu treffen und als meinen lieben Freund, mein Baby, mein Socii bezeichnen zu können, immer wieder aufs Neue irreal erscheinen lässt.


Zeitsprung


Es ist Mittwoch.
Schon kurz nachdem ich mein Zelt und übriges Zeug zusammengepackt habe sieht es so aus, als hätte die Sonne heute keine Chance sich durch das Gewölbe der Wolken durchzumogeln und dass es heute ein grauer und nasser Tag werden würde. Ich beschloss mich also schon vor meiner Abfahrt gegen Regen und Wind zu wappnen, indem ich meine Regenhose & – Jacke anzog, sowie alle möglichen Regencover auspackte und über mein Gepäck warf. Nach nur 500 Metern war klar, dass dies die richtige Entscheidung war. Da ich die letzten beiden Tage eher wenig Strecke zurückgelegt hatte, wollte ich heute unbedingt wieder an das von mir gesteckte Tagesziel von 50-70 Kilometern/Tag kommen. Das sollte sich jedoch als großer Fehler herausstellen.

Nach 3 Stunden, einigen Pausen um meine Bremsen erneut einzustellen, die einzige Regenunterbrechung zu nutzen um etwas Reis mit Tomaten-Basilikum-Sauce zu kochen und gerade mal 20 Kilometern zurückgelegter Wegstrecke, waren meine Füße bereits vom Regen durchweicht und fühlten sich an, als würde ich barfuß durch ein kaltes Moor schreiten. Und dennoch beschloss ich weiterzufahren. Ich hatte zum Glück bereits vor meiner Abfahrt die Wintersocken im Rucksack verstaut und war überzeugt davon, dass die Regencover mein Gepäck vor dem nassen Wetter schützen würden.
Mit Woody im Anhänger, den Wind und Regen in mein Gesicht peitschend fuhr ich also weiter. Ein Wanderer, den ich auf dem Weg getroffen hatte, sagte mir, dass es gegen Abend aufhören solle zu regnen, was meine Motivation natürlich steigerte.

Ich wollte so lange fahren, bis der Regen endlich aufhört und ich im Trockenen mein Zelt aufschlagen könne. Nach weiteren 2-3 Stunden und 15 Kilometern – es war mittlerweile kurz vor 18 Uhr – musste ich mir jedoch eingestehen, dass dies eher Wunschdenken war und ich mir möglichst zügig einen geeigneten Ort zum Campen suchen müsse. Ich spürte seit gut einer Stunde meine Zehen nicht mehr, meine Winterhandschuhe waren durchweicht und selbst meine sonst so dichte und gute Regenhose war kein Schutz mehr vor dem immer stärker werdenden Wind und Wetter.

Das ständige ankämpfen gegen den Wind, die Last des Regens auf dem Fahrrad, der Kleidung und dem Anhänger, sowie dem erschöpften Woody in diesem, zerrte mittlerweile an meinen Kraftreserven, sodass selbst die Müsliriegel, die ich während der Fahrt immer wieder verschlang um Energie zu tanken, nicht mehr ausreichten. In einer Einfahrt, vor einer kleinen Garage sah ich einen älteren Mann, der auf meinen Wink nett reagierte. Ich hielt an und fragte ihn, ob ich mein Zelt in seinem Garten aufschlagen könne. Zu meinem Glück bejahte er dies mit den Worten

„Klar, mach das! Ist ja nicht mein Garten.“

Ich durfte sogar meine Nassen Klamotten in einem kleinen Schuppen zum Trocknen aufhängen. Nachdem ich also mein Zelt aufgebaut und das Gepäck dort verstaut hatte, ging ich zum Schuppen, zog die nasse Regenkleidung und meine Schuhe aus, um diese dort etwas trocknen zu lassen. „Ob ich nun barfuß oder in durchweichten Schuhen herumlaufe, ist ja eh wurscht!“, dachte ich mir.
Vollkommen erschöpft jedoch glücklich endlich im trockenen Zelt verschnaufen zu können, schlich ich über das Feld in meine Höhle, blies meine Matratze auf und stellte mit Schrecken fest, dass das Regencover des Rucksacks genauso gut gehalten hatte wie meine Regenhose: gar nicht.
Mein Schlafsack, die Kleidung, meine Wintersocken: Alles war nass. Hoffnungslosigkeit machte sich breit und dem neben mir zitternden und trüb dreinschauenden Woody, ging es wohl ganz ähnlich.

Wie sollte ich in diesem Regen, bei der Kälte und dem Wind meinen Schlafsack trocken kriegen? Und was ist mit meinem Socken? Immerhin waren die Temperaturen in den letzten Nächten alles andere als warm, sodass es bitter nötig war drei paar Socken zu tragen, um meine Füße zumindest noch spüren zu können. Und was ist mit Woody? Er tat mir so unglaublich leid. Immer wieder schüttelte es ihn durch. Selbst seine Matratze war etwas nass geworden und nur eines seiner Handtücher war trocken geblieben.

„Immerhin etwas…“, dachte ich mir.

Ich war kurz davor meinen Freund Luiz in Bochum anzurufen und ihn darum zu bitten mich abzuholen. Abbrechen? Ich musste mir eingestehen, dass ich es ohne Hilfe nicht schaffen würde die Nacht zu überstehen. Meine letzte Chance bestand also darin an der Haustür des Mannes zu klingeln, der mir erlaubt hatte im Nachbargrundstück zu campen. Woody auf seinem letzten trockenen Handtuch in der kleinen Scheune verstaut, ging ich also mitsamt meinem regengetränkten Schlafsack barfuß durch den Regen, um die Garage herum und klingelte. So lernte ich Cor und Corry kennen, die sich nicht nur als meine und Woodys Retter, sondern auch als überaus interessante Menschen erwiesen.

Cor war ein 72 Jahre alter, jung gebliebener, ehemaliger LKW-Fahrer, der sich nun der Gartenarbeit umliegender Häuser verschrieben hatte. Er war ein eher ruhiger und verschlossener Mensch, welcher bisherigen Gewohnheit neuen Dingen vorzuziehen schien. Kurz nachdem er mich neben den Ofen gesetzt und meinen Schlafsack darunter verstaut hatte, wurde er von einem Nachbarn per Telefon um Hilfe gebeten.

Seine Frau Corry, die ebenfalls nicht so aussah, als wäre sie schon 71 Jahre alt, bot mir direkt einen Tee an, den ich natürlich dankend annahm. Sie erzählte mir davon, dass sie einst Kinderbuchautorin war und zeigte mir mit Stolz die fünf Bücher, die sie veröffentlicht hatte. Einige von diesen spielten in der umliegenden Region des Hauses, eines davon mit Ihrem Bruder und andere wiederum sogar in Deutschland. Sie erzählte mir auch, dass sie ein weiteres Buch geschrieben hatte, jedoch nie veröffentlichen konnte, da der Verlag nicht mehr existierte. Die Art, wie sie mir dies erzählte ging mir sehr nahe. Es war ihr anzumerken, dass sie es liebend gerne veröffentlicht hätte, sodass ich ihr versprochen habe, sollte ich jemals einen Verlag für mein Buch finden, diesen bitten würde auch ihres anzunehmen. Das zauberte ein kleines Lächeln auf ihr Gesicht, was auch mich mit Freude erfüllte. Den Tee ausgetrunken, bot sie mir ein Bier mit den Worten

„Mein Mann trinkt immer nur das von Aldi“ an.

Als Cor zurückkam, ich meine Schuhe ebenfalls unter den Ofen zum Trocknen gestellt und noch ein weiteres kühles Bier von Herrn Aldi getrunken hatte, begab ich mich gewärmt und mit einem weiteren Schlafsack bepackt, welchen die beiden mir mitgaben, zu meinem Zelt zurück. Woody wartete immer noch nass und zitternd in der Scheune. Im Zelt angekommen, wickelte ich ihn in den extra-Schlafsack um ihn schnellstmöglich trocken und warm zu kriegen. Das gelang mir zum Glück ziemlich gut und ich war sehr erleichtert, als er in-die-Decke-eingemümmelt anfing zu schnarchen.

„Kaffee ist fertig!“

Cor rief mir am nächsten Morgen über die Hecke zu. Herrlich.
Am Frühstückstisch mit leckerem kuchenähnlichen Gebäck, einem Spiegelei, Rosinenbrötchen und Brot versorgt, genoß ich den Blick aus dem Esszimmerfenster des alten Hauses über den Rhein. Direkt auf der anderen Seite konnte man das „Slot Loevestein“ sehen. Sie erzählten mir die interessante Geschichte über das ehemalige Gefängnis und dem einzigartigen Ausbruch eines seiner Gefangenen. Dieser war so belesen, dass er alle Bücher einer Kiste gelesen und sich anschließend in dieser versteckt hatte, um so ausbrechen zu können. Wie klein oder gelenkig dieser Mensch gewesen sein muss… Oder wie groß die Kiste…

Ein absolut paradiesischer Anblick. Ich stelle mir vor jeden Morgen mit meinem Kaffee, den ich sonst nie zu Hause, sondern immer erst in der Uni oder auf der Arbeit trinke und der Zeitung, die ich zu Hause eigentlich nie lese, am Esstisch zu sitzen, die Silhouetten des Schlosses anzusehen und 5 Minuten vor mich hin zu träumen.

„In zwei Jahren wird hier alles abgerissen“,

riss mich aus meinen Gedanken und lies mich aufschrecken. Abgerissen? Das Schloss? Das Haus? Was zum… Cor und Corry erzählten mir, dass die Regierung in Holland den Deich erweitern und somit alle Häuser an diesem entfernen wolle. Mehr als 40 Jahre leben die Beiden nun hier. 40 Jahre Paradies. Was kommt danach? Beide fühlen sich zu alt um erneut etwas aufzubauen, wirken etwas hoffnungslos und man merkt, dass sie keinen Gedanken daran verschwenden möchten und somit das Thema schnell wechseln. Wie ist das wohl, sich über Jahrzehnte heimisch zu fühlen und auf einmal ist alles weg. Ich glaube das können nur diejenigen beantworten, die so etwas bereits erlebt haben. Unglaublich, unfassbar, unverständlich. Auf meinem Weg habe ich etliche neu gebaute oder noch im Bau befindliche Häuser an ähnlichen Stellen gesehen. Wie kann es sein, dass dann solch ein altes, mit Holzbalken verziertes und wunderschönes Haus mit so viel Geschichte abgerissen werden muss?

Mit diesen Gedanken und einem gefüllten Magen, sowie einem neuen, alten Handtuch von den beiden wunderbaren Menschen mache ich mich auf meinen Weg nach Rotterdam. Das allerdings natürlich nicht ohne erneut meine Bremsen einzustellen. Mittlerweile vermute ich, dass es der nächtliche Frost ist, der die Scheiben oder Beläge zusammenziehen lässt.

Gedanken und Grübeleien über das Hin- und Herspringen zwischen Gegenwart und Vergangenheit bereitet mir Kopfschmerzen. Es benötigte einige Kilometer, bis ich mich wieder vollständig auf das Fahrrad und die restlichen 50 Kilometer bis Rotterdam konzentrieren konnte.
Der Letzte Tag hatte es definitiv in sich. Der Wille Strecke hinter sich zu lassen, die aufkommende Hoffnungslosigkeit beim Erkennen der nassen Kleidung und des Schlafsacks, den zitternden Woody anzusehen ohne etwas dagegen tun zu können, hat mich einiges gelehrt. Zum einen, dass man bei Regen nicht so viel Fahrrad fahren sollte. Wozu auch:

„Ich habe ja alle Zeit der Welt!“, denke ich mir.

Zum anderen, dass man in das Gute im Menschen vertrauen muss und es vielleicht doch eine Art „Engel“ auf der Welt gibt, ohne damit zu sehr in eine Schublade verschiedener Religionen abtauchen zu wollen. Manchmal muss man einfach nur fragen, offen sein und auf Menschen zugehen, bzw. auf sich zugehen lassen können. Dies ist schließlich das andere Motto, welches mich seit letztem Jahr begleitet hat:

„If you don’t go you won’t know“


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